23.08.2013 2. Offener Brief an den Hanauer Sozialdezernenten Axel Weiss-Thiel

zu den gestern erfolgten Wohnungsräumungen in der Daimlerstraße 

Hanau, den 23.August 2013 

Sehr geehrter Herr Weiss-Thiel, 

nachdem wir ja gestern Morgen bereits einen direkten Austausch vor Ort hatten, möchten wir uns erneut an Sie wenden: 

Das Hanauer Sozialforum begleitete die Räumungen in der Daimlerstraße - wie zuvor bereits angekündigt - mit persönlicher Präsenz, um dem Wunsch der Betroffenen zu entsprechen, die aufgrund ihrer vielfältigen Diskriminierungserfahrungen verunsichert bleiben und sich sicherer fühlen, wenn es Öffentlichkeit gibt. 

Wie wir ohne große Verwunderung vor Ort feststellen konnten, waren viele der Betroffenen bereits zuvor aus Angst - sicher auch vor angedrohten Inobhutnahmen der Kinder - aus den Wohnungen geflohen. 

Auch im direkten Gespräch mit Ihnen blieb für uns die Frage unbeantwortet, warum seitens der Stadt in den vergangenen Wochen oder zumindest Tagen keine Hilfsangebote für die betroffenen Familien gemacht wurden. Unser Eindruck blieb bestehen, dass die Stadt nichts getan hat, um der entstandenen Panik mit Transparenz entgegenzuwirken. Dieses Vorgehen lässt uns weiter davon ausgehen, dass hier bewusst darauf gesetzt wurde, dass die Familien aus Angst verschwinden. 

Nur einzelne Familien wurden in den Wohnungen angetroffen, ihnen wurde vor Ort zugesichert, später nach Vorsprache in der Obdachlosenstelle Unterkünfte zugewiesen zu bekommen. 

Im Hof hatten wir verschiedene Gespräche mit immer mehr Familien aus anderen Wohnungen, viele davon selbst in nächster Zeit räumungsbedroht, die sich erleichtert bis dankbar über die anwesende Öffentlichkeit äußerten. Wir wissen, dass die gestrigen Räumungen nur der Anfang waren und dass eine ganze Reihe weiterer Räumungen bevorstehen. Wir wollen daher einen Gesprächsfaden von heute morgen erneut aufgreifen: die anwesende Öffentlichkeit wurde von den Betroffenen als schützend erlebt, die Angst vor Übergriffen seitens der Polizei war unterdessen spürbar. Ausgelöst durch das bedrohlich wirkende Einmarschieren von etwa 20 schwarzgekleideten Uniformierten, die sich an Eingängen und Durchgängen positionierten, um Unterstützer/innen und Medienvertreter/innen fernzuhalten. Wenn Sie einerseits für mehr ehrenamtliches Engagement werben, sollten Sie andererseits als politischer Vertreter der Stadt und Behördenleiter die Begleitung in den schwierigsten Situationen auch ermöglichen und sich nicht hinter dem Ordnungsrecht verstecken. 

Wie ernst die wiederholte Einladung der Stadt zu mehr ehrenamtlichem Engagement zu nehmen ist, konnten wir wenige Stunden später in der Obdachlosenbehörde feststellen. Hier wurde einer der Betroffenen ausdrücklich verweigert, ihr gesetzlich verbrieftes Recht auf Mitnahme eines Beistands wahrzunehmen.(*) Einer ehrenamtlichen Unterstützerin wurde die Anwesenheit beim Gespräch verweigert mit der Begründung, Beistände seien heute nicht nötig und daher auch nicht zugelassen. 

Sehr eindrücklich war auch folgende Situation: eine andere Familie, die sich am Tag zuvor zunächst aus Angst vor der Räumung zu Verwandten (ebenfalls in der Daimlerstraße) geflüchtet hatte, wurde von der Obdachlosenbehörde mit dem Argument abgewiesen, dass sie doch dort auch bleiben könnten. Sie bewohnen daher eine in Kürze ebenfalls räumungsbedrohte 3-Zimmer-Wohnung nun mit elf Personen. Bereits vor einem Monat hatten sie sich an die Stadt gewendet und um Hilfe wegen der drohenden Obdachlosigkeit gebeten. Daraufhin waren ihnen ausschließlich Rückfahrt-Gutscheine nach Rumänien angeboten worden. 

Unser Resümee vom heutigen Tag: 

Dies war erst der Anfang der Vertreibung der Roma aus der Daimlerstraße – ein Eindruck, der von den Betroffenen, mit denen wir sprachen, geteilt wurde. Und sie sind sicherlich erfahrener in Sachen Vertreibung als wir. Die Ängste der Betroffenen bleiben gewaltig. 

Wir sehen Ihre Verantwortung darin, sich ihrer Aufgabe als Sozialdezernent tatsächlich zu stellen. Sie sind für kommunale Sozialpolitik zuständig, nicht für das Ordnungsamt oder die Polizei und auch nicht für die Landes- oder Bundesebene. Kommunale Sozialpolitik sollte sich wie immer an der Situation der Betroffenen vor Ort orientieren. Wir bleiben dabei: die Stadt sollte zumindest den akut betroffenen Familien deutlich machen, dass sie sie unterbringen bzw. eine Zuweisung in die alten Wohnungen veranlassen wird. 

Desweiteren muss eine ausreichende unabhängige Beratung ermöglicht, d.h. finanziert werden, die von Ehrenamtlichen nicht betrieben, aber unterstützt werden könnte. Denn wir gehen davon aus, dass die neuen EU-Bürger/innen durchaus mehr Rechte und Möglichkeiten haben, die ihnen aber bisher nicht bekannt sind und zum Teil auch erst durchgesetzt werden müssen. 

Unsere Verantwortung sehen wir in erster Linie darin, die Situation weiterhin kritisch zu begleiten. Wir denken, der gestrige Tag hat klar gezeigt, dass die Stadt sehr wohl in der Lage sein kann, Obdachlosigkeit zu vermeiden, aber erst in allerletzter Sekunde, womöglich in der Hoffnung, es möge bereits zu spät sein. Wir werden daher z.B. der oben genannten Familie Beistand anbieten, die in wenigen Wochen zum zweiten Mal aus einer Wohnung vertrieben werden soll. Wir haben heute einmal mehr feststellen können, dass es für Betroffene nötig ist, dass Außenstehende den Handlungsbedarf unterstreichen. 

Freiwillige Arbeit bleibt jedenfalls selbstbestimmt, mit Sicherheit können wir Ihnen jedenfalls zusichern, dass wir auch kommende Räumungstermine öffentlich begleiten werden und jederzeit bereit sind, Sie an Ihre Verantwortung als Sozialdezernent zu erinnern. 

* siehe Sozialgesetzbuch 10, § 13 Abs. 4: "Ein Beteiligter kann zu Verhandlungen und Besprechungen mit einem Beistand erscheinen." 

 

Hanauer Sozialforum/ AG Daimlerstraße
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